Making memories
Liebe Gemeinde,
im Samenkorn reichen die 1000 Holzbausteine gerade nicht mehr aus, weil
unsere Kinder Türme bis gefühlt kurz unter die Zimmerdecke bauen.
Sie werden immer besser darin. Wir bilden die Architekt*innen, Hoch- und
Tiefbauer*innen, Statiker*innen und Mathematiker*innen von morgen aus.
Wenn Sie diese Bauwerke sehen würden, wären auch Sie davon überzeugt,
dass der biblische Turm von Babel eigentlich nur geringfügig höher
gewesen sein kann als diese Riesentürme im Samenkorn. In der biblischen
Geschichte vom Turmbau zu Babel lesen wir, dass Gott die Menschen fortan
nicht mehr nur ein und dieselbe, sondern verschiedene Sprachen sprechen
lässt, damit sie sich nicht mehr mühelos verstehen. Im Allgemeinen
wird dies als eine Strafe Gottes angesehen.
Aber was ist, wenn wir einfach mal den Blickwinkel ändern und aus
einer anderen Perspektive auf diese Geschichte blicken? Vielleicht aus
einer, mit der auch Kinder tagtäglich durchs Leben gehen, einer unvoreingenommen-neugierig-naiven?
Kann die biblische Sprachverwirrung nicht auch ein Geschenk Gottes an
die Menschen gewesen sein? Gar eine Befreiung? Wie langweilig ist das
denn, wenn alle Menschen dieselbe Sprache sprechen? Ist es nicht sogar
ein Segen, wenn es keine Einheitssprache mehr gibt?
Jede Sprache hat ihren eigenen Charakter. Russisch klingt hart, Spanisch
etwas hektisch, Französisch eher charmant, hat fast musische Züge.
Jede Sprache hat ihre eigenen Bilder, in denen die Menschen, die sie sprechen,
denken: „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!“
Ich kam ganz schön ins Schwitzen beim Versuch, meiner Cousine aus
Denver in den USA glaubhaft zu erklären, dass wir Deutschen für
gewöhnlich keine Hunde zubereiten. Jede Sprache hat auch ihre kleinen
Besonderheiten und Formulierungen, die sich nicht ohne Weiteres übersetzen
lassen, weil es eben nur in der einen Sprache ein Wort für genau
diese Sache gibt. Versuchen Sie doch einmal „bauchpinseln“
ins Englische zu übersetzen. Da muss man sich schon ein wenig anstrengen
und ganze Sätze bemühen, um Menschen zu erklären, wofür
das Deutsche eben nur dieses eine kleine Wort braucht. Natürlich
gibt es solche umgekehrt auch im Englischen. Eines meiner liebsten ist
das in der Überschrift stehende „making memories“. Es
heißt so viel wie Momente aktiv zu gestalten und Zeit zu genießen,
an die man sich später positiv erinnern wird. Ein schönes Konzept,
wie ich finde.
Im Samenkorn kamen wir erst kürzlich zu einem Elternabend zusammen.
Zu Beginn bat ich alle Teilnehmenden, sich einmal selbst an ihre eigene
Zeit im Kindergarten, so es sie denn gab, zurückzuerinnern. In der
großen Runde wurden viele verschiedene Erinnerungen mit uns geteilt.
Neben eini- gen fast schon traumatischen Erinnerungen an den Zwang, die
Mahlzeiten aufzuessen oder Mittagsschlaf halten zu müssen, wurden
auch viele schöne Erinnerungen berichtet. So haben einige ihre beste
Freundin oder ihren besten Freund schon im Kindergarten kennengelernt
und sind seitdem untrennbar verbunden. Andere haben bis heute Kontakt
zu ihrer Lieblingserzieherin von damals. Viele sprachen von diesem Gefühl
der kindlichen Unbeschwertheit. Und wie sieht es bei Ihnen aus, liebe
Gemeinde? Erinnern Sie sich noch an Ihre eigene Kindergartenzeit? Denken
Sie gern an sie zurück?
Die entscheidende Frage allerdings ist doch diese: Welche Erinnerungen
wünschen wir unseren Kindern, die jetzt und zukünftig den Kindergarten
besuchen, wenn sie 30, 40 Jahre später zurückschauen und an
ihre Zeit im Samenkorn denken werden? Mit welchen Gefühlen soll diese
prägende Zeit verbunden sein? Können wir ihnen positive Erinnerungen
mitgeben?
Für unser Team steht fest: hier im Samenkorn wünschen wir uns,
dass die Kinder sich angenommen und wertgeschätzt fühlen, sich
erleben als aktiv gestaltend, selbstbestimmt und gleichberechtigt, eben
einfach als Gotteskinder. Wir geben den Stimmen der Kinder Raum. Sie lernen,
dass alle gleichberechtigt an der Gestaltung des Zusammenlebens teilhaben.
Kinder erleben Rücksichtnahme, gegenseitige Hilfe und gewaltfreie
Austragung von Konflikten. So lernen sie wichtige eigene Entscheidungen
zu treffen und Wertschätzung zu erfahren. Wir wünschen uns,
dass sie sich einmal sagen können: ich bin schon als Kind von den
mich umgebenen Menschen als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft wahrgenommen
worden, habe einen liebe- und würdevollen Umgang erfahren und kann
dies, dank meiner eigenen Erfahrungen, nun ebenfalls weitergeben.
Zurück in die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Blicken wir noch einmal
auf die freudige Verheißung, die darin deutlich wird: Gott befreit
uns vom Druck, einer Einheitsnorm entsprechen zu müssen, von der
Angst, anders als andere zu sein. Er bereichert uns mit einer Vielfalt
von Sprachen, Kulturen und Lebensformen. Wenn wir miteinander reden, einander
zuhören und uns unsere Lebensgeschichten erzählen, dann können
wir aufein- ander zugehen, aneinander wachsen und voneinander lernen.
Jeder und jede, genauso wie er oder sie von Gott geschaffen wurde und
geliebt wird.
Herzliche Grüße aus dem Samenkorn
Daniel Schewe
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